Demonstrationen der russischsprachigen Bürger

Demo am 24. Januar am Kölner HauptbahnhofEin Fall aus Berlin erhitzt gerade die Gemüter der russischsprachigen Diaspora in Deutschland. Am 11. Januar verschwand das 13-jährige Mädchen Lisa mit russischen Wurzeln, auf dem Weg zur Schule für ca. 30 Stunden. Als das Kind wieder auftauchte, erzählte es den Eltern, es sei von mehreren Ausländern bzw. Migranten entführt und mehrfach vergewaltigt worden. Die Eltern erstatteten Anzeige bei der Polizei. Die Ermittler sind zum Schluss gekommen, dass es keine Entführung und Vergewaltigung gab und gingen von “einvernehmlichem Sex” aus. Fünf Tage später, am 29. Januar, wurden weitere Einzelheiten bekannt: weil sie Probleme in der Schule hatte, übernachtete Lisa bei ihrem Freund. Der 19-Jährige wurde als Zeuge vernommen. Gegen zwei Verdächtige wird noch wegen sexueller Handlungen mit einer Minderjährigen ermittelt.

Der Fall wurde schnell bekannt. Die russischen Medien haben intensiv, zum Teil sehr provokativ, darüber berichtet, – die Gerüchteküche in Sozialen Netzwerken brodelte. Gegen einen russischen Reporter vom staatlichen Fernsehsender “Pervij kanal” wurde in diesem Zusammenhang eine Anzeige erstattet wegen Volksverhetzung.
Der Vorwurf der aufgebrachten Bürger gegenüber der Polizei hieß “Vertuschung”. Am 23.01.2016 fand eine Demo vor dem Kanzleramt in Berlin unter dem Motto „Protest gegen sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen gegen Frauen und Kinder“ statt. Organisiert wurde die Demo von dem s.g. „Internationalen Konvent der Russlanddeutschen”. Auch „Bärgida“-Teilnehmer waren dabei.

Der Fall Lisa erreichte sogar die Außenminister von Russland und Deutschland und führte zu einem Schlagabtausch auf der diplomatischen Ebene. Am 24.01.2016 sind dann deutschlandweit ca. 10.000 Personen den Aufrufen im Internet und per Whatsapp gefolgt und mehrere, zum Teil nicht angemeldete Demos organisiert worden. Eine Demo mit ca. 200 Teilnehmern fand auch in Köln vor dem Hauptbahnhof statt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind ca. 2,5 Millionen Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. In Köln soll ihre Zahl bei einigen Zehntausend liegen. Im Bezirk Chorweiler leben mehrere tausend Spätaussiedler und russischsprachige Bürger. Die Integration dieser Menschen gilt weitestgehend als gelungen. Umso mehr überraschten diese Demos die deutsche Öffentlichkeit. Wir haben gebeten den Sozialarbeiter Roman Frierdich, selbst ein Russlanddeutscher, der lange Zeit als Streetworker die russischsprachigen Jugendlichen in Chorweiler betreute und nun im Düsseldorfer Brennpunkt Oberbilk („Maghreb Viertel“) tätig ist, auf einige Fragen der Redaktion zu antworten.

 

Redaktion: In den letzten fast drei Jahrzehnten waren die Spätaussiedler politisch wenig aktiv. Warum sind dieses Mal so viele Menschen auf die Straße gegangen?
Roman Friedrich: Aus meinen Beobachtungen im Rahmen der Straßensozialarbeit, Gewalt-und Extremismuspräventionsarbeit, wo ich vorrangig mit der russischsprachigen Zielgruppe gearbeitet hatte, habe ich feststellen können, dass viele unserer Landsleute kaum Interesse an innenpolitischen Prozessen in der BRD zeigten.

Zum Teil war es dadurch verschuldet, dass sie in ihren totalitär/autoritär regierenden Ursprungsländern (Russland, Kasachstan, Ukraine etc) solche „Phänome“ wie politische Teilhabe, demokratisches Mitbestimmungsrecht, bürgerliches Engagement etc. nicht kannten und darum hier keinen Gebrauch davon machen konnten, zum Teil deshalb, weil kaum relevante, Zielgruppenzugeschnittene Angebote im Bereich politischer Bildung zur Verfügung stand.

Die Bundesregierung/Landesregierung/Kommune hat die Russlanddeutschen formell/statistisch gesehen nicht mehr als „Ausländer“ betrachtet, da viele ziemlich schnell eingebürgert wurden. Dadurch wurden weniger Mittel für Integrationsprojekte ausgeschüttet. Außerdem hatten sich russische MSOs (Migrantenselbstorganisationen) vorrangig auf kulturelle Angebote fokussiert und sich weniger mit politisch relevanten Themen auseinander gesetzt.

Somit entstand eine „politische Bildungslücke“ für unsere Landsleute. Nicht unwichtig ist auch die Sprachbarrie als Hindernis zu erwähnen, die für viele „Russlanddeutsche“ Familien bis heute noch ein großes Problem darstellt. Auch die renommierten Parteien der BRD hatten die Russlanddeutschen nicht als eine Wählergruppe betrachtet und somit waren die Russlanddeutschen an politischen Prozessen nicht oder weniger beteiligt. Momentan, durch die aufgeheizte Stimmung seitens rechtspopulistischer Organisationen und Bewegungen und durch die gezielte Propaganda und Rekrutierungsarbeit unter Russlanddeutschen, wurde es möglich, dass relativ größere Gruppen von ihnen „politisch“ aktiv wurden und sich momentan an Protestaktionen gegen Deutschlands Flüchtlingspolitik mit NPD, AfD, Pegida u.ä. zusammenschließen. Es ist aber immer noch nur ein kleiner Anteil der Russlanddeutschen, die zur Zeit in der BRD leben. Die Ängste wurden künstlich geschürt und dann für politische Zwecke missbraucht.

Redaktion: Welche Rolle spielen bei den aktuellen Ereignissen russische Medien und soziale Netzwerke?
Roman Friedrich: Dadurch, dass sehr viele Russlanddeutsche die russischsprachigen sozialen Netzwerke nutzen und die russischen Medien konsumieren, wurde es möglich, dass die negative/skandalöse Berichterstattung seitens der russischen Medien und Kommentare in den Netzwerken über den Vorfall in Berlin, wo angeblich ein 13-jähriges Mädchen aus einer russischen Familie sexuell missbraucht wurde, eine größere Gruppe erreichen und Radikalisierungsprozesse in Gang setzen konnte. Durch künstlich geschürte Ängste unter der russischen Bevölkerung und der fehlenden Kompetenz im Zusammenhang mit dem Informationsfluss differenziert umgehen zu können, wurde es möglich, dass sich viele russische Familien und Einzelpersonen durch dieses Ereignis angesprochen gefühlt und radikalisiert hatten.

Redaktion: Es entsteht der Eindruck, dass ein nicht unerheblicher Teil der Russlanddeutschen kein großes Vertrauen in den deutschen Staat hat. Woran liegt es und wie kann das Vertrauen zurückgewonnen werden?
Roman Friedrich: Die Russlanddeutschen kommen aus einem totalitären Staat, wo viele von ihnen, (entweder selbst oder deren Familienmitglieder) Opfer der staatlichen Repressionen waren. Daher besteht ,seitens der Russlanddeutschen, ein „angeborenes“ Misstrauen zu Repräsentanten des Staates. Das hat sich während meiner Arbeit als Streetworker sehr bemerkbar gemacht. Ich brauchte einige Jahre um Vertrauen bei den Menschen aus GUS-Staaten zu gewinnen.

Im Laufe der Jahre wurde zwar das Vertrauen seitens der Russlanddeutschen gegenüber dem Staat allmählich aufgebaut, dennoch im Laufe der letzten Monate durch die aktive Verbreitung der rechtspopulistischen Ideologie, wo unter anderem auch europafeindliche/antidemokratische und regierungskritische Parolen propagiert wurden, das Vertrauen an den Staat allmählich verloren ging.

Es ist auch zu erwähnen, dass es zum Teil durch inkompetente Informationspolitik der Stadtverwaltung Köln und des Polizeipräsidiums Köln, im Umgang mit der Silvesternachtsituation zu verschulden ist, dass viele Mitbürger den Eindruck bekommen haben, dass gewisse Informationen vorenthalten werden, wenn es z.B. um Ausländerkriminalität geht.

Diskussionsplattformen zu bilden, Offenheit und Bereitschaft zu zeigen trägt mit dazu bei, sich auch kritischen Fragen zu stellen und eine ausgewogene und bürgerorientierte Informationspolitik zu betreiben, sowie mediale Präventionsprojekte, speziell für russischsprachige Mitbürger, zu initiieren, wo viel Aufklärungsarbeit geleistet wird. Das sind meiner Meinung nach die Schritte, die seitens sowohl der kommunalen als auch der Landes- und Bundesregierung als erstes unternommen werden müssten, um das Vertrauen der russischsprachigen Community neu zu gewinnen.

Redaktion: Was meinen Sie, bleibt es bei der einmaligen Aktion oder erleben wir gerade einen dauerhaften Trend der breiten politischen Selbstorganisation der Spätaussiedler?
Roman Friedrich: Das kann man schwer einschätzen. Vieles hängt von den Interventionsschritten der Regierungsvertreter ab.

29.01.2016, Alexander Litzenberger
Foto: Youtube-Kanal DMLife

 

Roman FriedrichRoman Friedrich (40) ist 1996 als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Er ist Erzieher, Soziologe (BA), angehender Sozialarbeiter (BA, KatHO), AntiGewalt/Deeskalation- Trainer, Mitglied der Fachgruppe „Extremismus“ der Stadt Düsseldorf. Acht Jahre ist er als Streetworker in Chorweiler-Nord, Chorweiler und Porz-Finkenberg tätig gewesen. Danach wurde er Jugendzentrumsleiter in Frechen. Zurzeit ist er Standortleiter für Streetwork/Mobile Jugendarbeit in Düsseldorf-Oberbilk („Maghreb Viertel“).
  

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