Neues Buch: Postsowjetische Migration in Deutschland

Chorweiler
Dr. Jannis Panagiotidis in Haifa (Israel).

Postsowjetische Migranten sind die größte Zuwanderungsgruppe der heutigen Bundesrepublik. Anders als andere Migrationsgruppen leben sie in ihrer Mehrzahl nicht in Großstädten, sondern in Klein- und Mittelstädten unter 100.000 Einwohner. Dies gilt besonders für russlanddeutsche Spätaussiedler, von denen nur knapp über 20% in Großstädten leben.

In den Millionenstädten, wo sie i.d.R. nur einen relativ kleinen Anteil der Migrationsbevölkerung ausmachen, leben sie dafür umso stärker konzentriert in bestimmten Stadtteilen. Köln ist dabei keine Ausnahme, und Chorweiler das prominenteste Beispiel: der Bevölkerungsanteil von Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion liegt hier bei gut 17 Prozent, mehr als fünfmal so hoch wie in der Gesamtstadt. Spitznamen für solche Stadtviertel gibt es viele: „Klein-Moskau“, „Klein-Kasachstan“, „Stalin-Allee“, „Gorki-Park“ – wo sich postsowjetische Migranten in größerer Zahl niederließen, kramte der „Volksmund“ alle seine (offenbar sehr begrenzten) Kenntnisse sowjetischer Geschichte und Topografie hervor.

Diese stereotypen Bezeichnungen sind ein Ausdruck der zahlreichen Vorurteile, die den Neuankömmlingen entgegenschlugen. Für Spätaussiedler wie auch für Kontingentflüchtlinge – die zwei wichtigsten postsowjetischen Migrationsgruppen – galt dabei gleichermaßen, dass sie oft als „Russen“ wahrgenommen wurden, obwohl sie doch eigentlich als Deutsche bzw. Juden in Deutschland Aufnahme fanden. Die Vorurteile gegen diese Menschen sind durch die unterschiedlichen negativen und auch positiven Stereotype strukturiert, die mit diesen verschiedenen Kategorien jeweils verbunden sind. Gleichzeitig gelten sie als „auffällig unauffällig“, weil sie in der Mehrheitsbevölkerung relativ schnell „unsichtbar“ werden können. Mit dieser besonderen Vorurteilsstruktur befasst sich Kapitel 6 meines Buches, aus dem hier ein Auszug folgt:

Jannis Panagiotidis, Postsowjetische Migration in Deutschland, ISBN 978-3-7799-3913-9

Postsowjetische Migranten nehmen einen eigenartigen Platz in der Vorurteilsstruktur der bundesdeutschen Migrationsgesellschaft ein. In den Worten von Darja Klingenberg (2018, S. 151; Hervorhebung im Original) nehmen sie die „Position der internen Anderen“ ein. Zunächst einmal sind sie „weiß“ – werden also nicht wie People of Color oder Muslime anhand von Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit als „Fremde“ markiert. Sie gelten als „unauffällig“, gleichsam „unsichtbar“. Sie kommen aber aus „dem Osten“, mehr noch, aus „Russland“, einer Region, die in Deutschland (und allgemeiner „im Westen“) traditionell das Objekt massiver Vorurteile, Stereotypen und (kolonialer) Projektionen ist (Thum 2006; Casteel 2016; Kienemann 2018). Seit dem Zeitalter der Aufklärung ist „Osteuropa“ in der westlichen Vorstellung eine Art Zwischenwelt – nicht ganz „Orient“, aber eben auch nicht ganz Europa, „Europe but not Europe“ (Wolff 1994, S. 7), ein Hort der Rückständigkeit. Hinzu kommt noch ein spezifisch deutsches Repertoire von antislawischem Ressentiment (Petersen 2020), welches für die Betrachtung postsowjetischer Migranten von Bedeutung ist – unabhängig davon, ob sich diese selbst als „Slawen“ verstanden oder gerade nicht. Dieses hängt historisch wiederum eng mit antijüdischen Stereotypen über „Ostjuden“ zusammen (Kurth/Salzborn 2009).

Vereinfacht gesagt: Wenn es gut lief, waren die betroffenen Menschen fleißige Deutsche und kultivierte Juden, wenn es schlecht lief, kriminelle, saufende, gewalttätige „Russen“.

Vorurteile und Stereotype sind aber nicht automatisch negativ. Auch positive Stereotype sind in Bezug auf die verschiedenen postsowjetischen Migrantengruppen relevant. Wie wir sehen werden, wurden in Bezug auf die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im öffentlichen Diskurs gerade nicht die überkommenen antisemitischen Topoi über „Ostjuden“ aufgerufen, sondern positiv besetzte philosemitische Stereotype über jüdische Bildungsbürger, Kulturschaffende und Intelligenty. Positive Stereotype prägten auch zunächst den Diskurs über die Russlanddeutschen, deren – vermeintlich vorbildliche – deutsche Identität im offiziellen und publizistischen Diskurs oft hochgradig stereotyp dargestellt wurde und zum Teil immer noch wird: „Meine Russlanddeutschen sind viel deutscher, als die meisten Menschen hier“, wie mir eine in der Aussiedlerpolitik engagierte CDU-Politikerin bei einer Veranstaltung zu Geschichte und Identität der Russlanddeutschen erst im vergangenen Jahr mitteilte. In beiden Fällen diente die Produktion dieser positiven Bilder der politischen Legitimation ihrer Aufnahme. Die Aushandlung der mehrheitsgesellschaftlichen Betrachtungsweisen postsowjetischer Migration fand im Spannungsfeld der durch die positiven Stereotype erzeugten Erwartungshaltungen einerseits und den ihnen entgegenstehenden, im Falle von Enttäuschungen stets mobilisierbaren negativen Stereotypen andererseits statt. Damit zusammen hing auch stets die Frage legitimer Identität. Vereinfacht gesagt: Wenn es gut lief, waren die betroffenen Menschen fleißige Deutsche und kultivierte Juden, wenn es schlecht lief, kriminelle, saufende, gewalttätige „Russen“.

Ein weiterer Aspekt, der die Spezifik der Vorurteile gegenüber postsowjetischen Migranten ausmacht, ist ihre Verortung im bundesdeutschen Migrationsdiskurs; genauer gesagt in einem Diskurs über Zuwanderung, in dem sowohl Spätaussiedler als auch Kontingentflüchtlinge gerade keine Migranten, keine Ausländer sein sollten. Ihre diskursive aber vor allem rechtliche und materielle Sonderstellung machte insbesondere die Spätaussiedler zum Objekt von einwanderungsfeindlichen Ressentiments, paradoxerweise auch von Teilen der Mehrheitsgesellschaft, die sich eigentlich durch eine besonders migrationsfreundliche Haltung auszeichnen. Die linksliberale Öffentlichkeit wendete das „ethnische Privileg“ ihrer Aufnahme, vom damaligen SPD-Chef Oskar Lafontaine abfällig als „Deutschtümelei“ bezeichnet, gegen die Spätaussiedler (Joppke 2005, S. 208).

Ihre (Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge, Red.) diskursive aber vor allem rechtliche und materielle Sonderstellung machte insbesondere die Spätaussiedler zum Objekt von einwanderungsfeindlichen Ressentiments, paradoxerweise auch von Teilen der Mehrheitsgesellschaft, die sich eigentlich durch eine besonders migrationsfreundliche Haltung auszeichnen.
Dazu schreibt der Historiker Jan Plamper (2019, S. 231) in seinem Buch Das neue Wir: „In den Milieus, die die Briten als chattering classes, als plappernde Klasse bezeichnen, also unter den Intellektuellen und innerhalb des Bildungsbürgertums, gelten die Aussiedler als uncool. Man gibt sich postnational, dass die Politik die Aussiedler so leicht ins Land gelassen und ihnen die Staatsangehörigkeit vor anderen gegeben hat, gilt als archaisch.“ Die damalige Leiterin des Frankfurter Amts für Multikulturelle Angelegenheiten, Rosi Wolf-Almanasreh, sprach schon 1989 noch pointierter, aber durchaus angemessen, von den Aussiedlern als „Sündenböcken der Linken“ (zitiert nach Römhild 1998, S. 301). Wie die Soziologin Darja Klingenberg (2019, S. 264) es außerdem treffend formuliert, „passten die Russlanddeutschen ebenso wie andere russischsprachige Migrantinnen nicht in die deutsche Vorstellung exotischer und hilfsbedürftiger Fremder“.

Prof. Dr. Jannis Panagiotidis, Wissenschaftlicher Direktor am Forschungszentrum für Transformationsgeschichte (RECET) der Universität Wien*

Infos
Weitere Leseprobe: www.beltz.de
Das Buch „Postsowjetische Migration in Deutschland: Eine Einführung“ ist hier zu erwerben (ISBN 978-3-7799-3913-9, ©2021 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz)
Podkast Deutschlandfunk:  Andruck – Das Magazin für Politische Literatur, Autor: Gemma Pörzgen, Hören bis: 19.01.2038 04:14

* (Jannis Panagiotidis, Postsowjetische Migration in Deutschland: Eine Einführung, Weinheim: Beltz Juventa, 2021, S. 142-143).

Titelfoto: Eugen Vorononok.

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